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Neuer Andachtsraum für Kirche Unterwössen

Veröffentlicht von Anton Hötzelsperger

Ein Ort mit überregionaler Symbolkraft   – Im neuen Andachtsraum in Unterwössen vereint der Bildhauer Andreas Kuhnlein Machtmissbrauch und Versöhnung

Die Verletzlichkeit des Menschen und zugleich die Verletzungen, die der Mensch seinesgleichen sowie Tieren und Umwelt beibringt, sind eines der zentralen Themen, mit denen sich der Unterwössener Bildhauer Andreas Kuhnlein in seinen Arbeiten beschäftigt. Ein mutiges Werk, das weit über Person und Ort hinausreicht, wird am heutigen Samstag (3. September) im Rahmen eines Wortgottesdienstes der Öffentlichkeit vorgestellt: der neue Andachtsraum in der katholischen Pfarrkirche St. Martin in Unterwössen. In besonderer Weise sind in dem nur knapp sieben Quadratmeter großen Raum das tatkräftige Engagement und die Unterstützung vieler kreativer Geister gebündelt. Sie sollen Raum schaffen für den heilsamen Umgang mit dem sensiblen Thema Missbrauch. Als Schutz- und Kraftort, meditative Andachtsstätte oder als „Lebensraum Jesu“ bietet er Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, auf welch unterschiedliche Weise Menschen durch den Missbrauch von Macht oder sexueller Gewalt zu Opfern werden können.

Starkes Zeichen der Mitmenschlichkeit

Zugleich setzt die eindrückliche formale und inhaltliche Gestaltung des Raums ein starkes Zeichen von berührender Mitmenschlichkeit, Solidarität und Hoffnung. Ebenso soll die Stätte als Raum in der Kirche die Organisation der Kirche mit ihren verkrusteten Machtstrukturen an die wahre Botschaft Christi erinnern. Der Andachtsraum thematisiert erstmals auch Missbrauchsfälle, die sich in den 60er Jahren in Unterwössen zugetragen haben. Rund sieben Jahre reicht die Realisierung der Andachtsstätte in der Pfarrkirche zurück. Ersten Ideen zufolge sollte diese im Rahmen der Kirchenrenovierung im westlichen Zugangsbereich entstehen. Nach intensiven Gesprächen mit Kuhnlein einigte man sich auf den geschützten Raum unter dem mächtigen Westturm als Alternative. Durch die unter dem Putz freigelegte Wand aus Bruchsteinen wirkt er sehr ursprünglich.

Freunde waren von Missbrauch betroffen

Eine starke Intensivierung und künstlerische Zuspitzung erfuhr die Gestaltung des Andachtsraums im Zusammenhang mit dem Umgang der katholischen Kirche mit den Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester und der zögerlichen Aufarbeitung durch kirchliche Stellen. Wie Andreas Kuhnlein im Gespräch erzählt, war er durch drei Freunde in Unterwössen persönlich mit Missbrauchsfällen, den schrecklichen Folgen für die Betroffenen und dem zum Teil stigmatisierenden Umgang damit im Ort konfrontiert. Empört über die jahrelang andauernden Vertuschungsversuche der Kirche – auch bei wiederholten Besuchen von Kardinal Joseph Ratzinger im Ort -, machte Kuhnlein nach der Beerdigung eines betroffenen Freundes seiner Wut – auch als gläubiger Christ – Luft: Er schrieb im Oktober 2018 einen geharnischten Brief an Kardinal Reinhard Marx. Dieser vermittelte den Kontakt zu Missbrauchsbeauftragten im erzbischöflichen Ordinariat. In intensiven Gesprächen, später auch ergänzt durch Kontakte zum unabhängigen Betroffenenbeirat der Erzdiözese München-Freising, reifte eine neue Idee. Der Andachtsraum sollte behutsam mit der Missbrauchsthematik verknüpft werden.

Sündenböcke und Vertuschung

„Es gibt erstaunliche Parallelen im Leben und der Passion Jesu“, erläutert Kuhnlein. „Immer wieder geschieht es, dass einer zum Sündenbock gemacht wird und an etwas Schuld haben soll. Und zwar deshalb, weil jemand oder eine Gruppe ihr Ansehen und ihre Macht bedroht sieht und die Wahrheit vertuscht.“ Statt Ausgrenzung und Stigmatisierung gehe es aber darum, sich im Sinne der ursprünglichen Botschaft Christi an die Seite Ausgegrenzter zu stellen. Wichtig sei, für die Wahrheit und gegen Gewalt einzutreten und die Kirche an ihre wahre Berufung zu erinnern, sagt der 69-Jährige. In zwei szenischen Holzskulpturen der Verurteilung und Kreuzigung Jesu sowie der zentralen Figur der Auferstehung wird das Thema im Andachtsraum anschaulich. Wie erläuternde Kommentare erweitern zwei bläulich schimmernde Glasbilder mit Texten links und rechts die Aussage.

„Für den Ort ist es wie eine Befreiung“

„Die Botschaft des Andachtsraumes reicht weit über Unterwössen hinaus, aber für den Ort ist es wie eine Befreiung“, sagt Bürgermeister Ludwig Entfellner. Es gehe nicht um Skandalisierung oder das Aufwärmen alter Fälle. Vielmehr ermögliche es der sensible Umgang mit dem Thema, den Betroffenen und ihren Familien Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne den Ort zu spalten. Nach der Vorstellung im Gemeinderat seien die Reaktionen „sehr positiv“ gewesen, sagt Entfellner. „Es ist beeindruckend, wie empathisch und kraftvoll sich Andreas Kuhnlein dem Thema Missbrauch widmet“, erklärt Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats. Er hebt die Klarheit und „hohe Symbolkraft“ der Umsetzung hervor, „mit der der Künstler nicht nur seinen Freunden, sondern allen Betroffenen eine Stimme gegeben hat“ und viele Widerstände überwunden habe.

„Wichtiges Mahnmal“ in Unterwössen

Als „absolut unterstützenswert“ bezeichnet auch Lisa Dolatschko-Ajjur, Leiterin der Stabsstelle Prävention von sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München-Freising, die Idee, in Unterwössen einen Raum zu schaffen, „der Andacht und Erinnerungskultur sensibel zusammenbringt“. Dieser zeige, „dass auch in Unterwössen Kinder von einem katholischen Priester sexuell missbraucht wurden“ und sei deshalb „ein sehr wichtiges Mahnmal“. Aus Sicht von Generalvikar Christoph Klingan vom Erzbistum München bestärke das Kunstwerk die „unbedingte Notwendigkeit, sich dem Thema zu stellen, wie es in Aufarbeitung, Prävention und Intervention geschieht“. Zugleich würden zahlreiche Schritte unternommen, um „im Bereich der gesamten Erzdiözese wirksam gegen Grenzüberschreitungen und Missbrauch vorzugehen“. Für Pfarrer Martin Straßer als Hausherr steht die Andachtskapelle dafür, „das Licht des Angenommenseins und der Liebe in die Menschenherzen zu bringen“. Der Text in einer erläuternden Begleitbroschüre des Andachtsraumes bringt die Botschaft des Andachtsraums auf den Punkt: „Es wird Zeit, dass die Bevollmächtigten der Kirche in ihren Opfern diejenigen erkennen, die ihnen die Wahrheit zeigen. Sie sind die Verwundeten eines Systems, das lebensbedrohlich krank ist – und krank macht.“

Symbol für Gerechtigkeit und Vergebung  – Der neue Andachtsraum in der Pfarrkirche in Unterwössen soll Heilung für ein Unrecht vor 60 Jahren bringen

Im Beisein von rund 40 Gottesdienstbesuchern fand am Samstag die Einweihung des neuen Andachtsraumes in der Pfarrkirche St. Martin in Unterwössen statt. Mit ihm sind die Renovierungsarbeiten der Kirche endgültig abgeschlossen. Bereits im Vorfeld war der von dem Bildhauer Andreas Kuhnlein gestaltete Raum überregional auf Interesse gestoßen. Verbindet er doch auf sensible Wiese die Möglichkeit zur Andacht mit dem Gedenken an den sexuellen Missbrauch durch einen Priester, der in den 60er Jahren in Unterwössen stattgefunden hat.

Pfarrer Martin Straßer erinnerte in dem Wortgottesdienst an die vielen Besprechungen und Vorarbeiten, bis der Ort und die Art der Gestaltung  des Andachtsraumes durch Kuhnlein feststand und die Realisierung umgesetzt werden konnte.  Nicht weniger anspruchsvoll sei der Gedanke gewesen, das unangenehme Thema des Missbrauchs aufzugreifen und ihm einen angemessenen Ort des Umgangs damit zu widmen. Die jetzige Kapelle unter dem Kirchenturm habe lange keine Funktion gehabt. Durch die sensible Gestaltung vergegenwärtige der jetzige Andachtsraum den Leidensweg und die Auferstehung Christi und ermögliche es, „das Licht Gottes zu empfangen“. Andreas Kuhnlein ging auf die konstruktiven Gespräche mit Architekt Helmut Birner ein, der für die Renovierung zuständig war. Der anfänglich ins Auge gefasste Vorraum sei wegen der drei Türen als ungeeignet verworfen worden. So fiel die Wahl des jetzigen Kapellenraums auf die ehemalige Läutstube des Glockenturms. Dieser entfalte durch die Bruchsteine ein besonderes Flair.

Der Bildhauer aus Unterwössen schilderte auch, wie sich die Pläne für die inhaltliche Gestaltung im Laufe der siebenjährigen Planungs- und Realisierungsphase verändert hätten. Nach den Wünschen von Pfarrer Martin Straßer sei ursprünglich ein Kreuzweg geplant gewesen. Dieser erschien aber aufgrund der räumlichen Enge schwierig zu realisieren. Ziel sei gewesen, die „zentrale Botschaft des Glaubens“ bildhaft umzusetzen. Anstoß für die jetzt umgesetzte Idee sei ein Presseartikel über die Entschuldigung von Kardinal Reinhard Marx bei den Opfern des sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester gewesen, schilderte Kuhnlein weiter. Aufgrund der persönlichen Freundschaft mit Betroffenen und der jahrzehntelangen Vertuschung gerade durch hochgestellte Geistliche hab er einen geharnischten Brief an den Kardinal geschrieben, erklärte Kuhnlein.

Nach Vermittlung durch Marx sei dann in „sehr offenen und ermutigenden Gesprächen“ mit führenden Mitarbeitern des Erzbischöflichen Ordinariats in München aus dem Bereich Missbrauch und Prävention die Idee entwickelt worden, den Ort der Andacht sensibel mit der Missbrauchsthematik zu verbinden. Diese sei auch mit dem unabhängigen Betroffenenbeirat der Erzdiözese abgestimmt worden.

Ausführlich ging Kuhnlein auch auf die inhaltlichen Aspekte des Andachtsraumes ein, der „gegen viele Widerstände“ realisiert werden konnte. Er bedankte sich ausdrücklich bei den „vielen engagierten Mitstreitern“ in Pfarrgemeinderat, Kirchenverwaltung und im Gemeinderat.

Bürgermeister Ludwig Entfellner hob die „Befreiung“ hervor, die Unterwössen durch den neuen Andachts- und Gedenkort erfahren habe.  Nach dem sexuellen Missbrauch durch einen Pfarrer vor rund 60 Jahren seien die Jugendlichen und ihre Familien allein gelassen, stigmatisiert und aus der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt worden. Dies habe großes Leid verursacht. Auch wenn einige bereits „mit dieser Last und Ungerechtigkeit“ verstorben seien, könne das Andenken in einem kirchlichen Andachtsraum Betroffenen und ihren Familien wenigstens „posthum Heilung bringen“.

Mit dem Gedenkort werde „durch Klarheit und Transparenz falschen Schuldzuweisungen und Spekulationen von höchster Stelle ein Ende gesetzt“. Dabei gehe es nicht um eine erneute Verurteilung der Täter, sondern „um Gerechtigkeit, Versöhnung und Vergebung“. Diese Befreiung im Geiste Jesu Christi sei auch für alle Ehrenamtlichen als tragende Säulen der Kirche wichtig, ergänzte Entfellner. Nur so könne „Glaube und Kirche auch künftig eine Ankerwirkung in der Gesellschaft entfalten“.

Bericht und Bilder: Axel Effner

Blick in den neuen Andachtsraum in der Pfarrkirche St. Martin in Unterwössen mit der szenischen Darstellung der Verurteilung, Kreuzigung und Auferstehung Christi sowie kommentierenden Texten in den beiden Glasfenstern. Die Verletzlichkeit des Menschen und die Verletzungen, die Menschen sich gegenseitig sowie der Natur und Umwelt zufügen, beschäftigt sich der international angesehene Holzbildhauer Andreas Kuhnlein in seinem Werk. Wie ein kirchenkritischer Kommentar liest sich der Text auf einem der beiden Glasfenster des neuen Andachtsraumes, die in der Glasmalerei-Werkstätte im Stift Schlierbach in Österreich gefertigt wurden. Er verknüpft die Passion Christi mit dem Leid der Missbrauchsopfer.

 

 

Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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