Vor 80 Jahren: Die Vertreibung der Sudetendeutschen – Chiemseer Familiengeschichte als Zeitzeugnis – Teil I
Vor rund 80 Jahren begann ein Kapitel europäischer Nachkriegsgeschichte, das bis heute nachwirkt: die Vertreibung der Sudetendeutschen. Zwischen 1945 und 1947 verloren etwa drei Millionen Menschen in der damaligen Tschechoslowakei ihre angestammte Heimat. Unter ihnen war auch die Familie Schwarzer – ihre Geschichte spiegelt das Schicksal Vieler wider.
Die sudetendeutsche Bevölkerung hatte über Jahrhunderte hinweg in den Gebieten Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens gelebt. Ihre Wurzeln reichen bis ins 12. und 13. Jahrhundert zurück, als deutsche Bauern, Handwerker und Bergleute begannen, die damals noch dünn besiedelten Regionen zu erschließen. Das Sudetenland wurde damit zu einer kulturell vielfältigen Region, in der deutsche Sprache, katholischer Glaube und handwerkliche Traditionen fest verwurzelt waren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zur systematischen Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung – als Reaktion auf die nationalsozialistische Besatzungspolitik und die damit verbundenen Kriegsverbrechen. Was folgte, war eine kollektive Bestrafung, die sich gegen eine gesamte Bevölkerungsgruppe richtete. Die Transporte erfolgten meist in Güterzügen, das Hab und Gut der Vertriebenen wurde beschlagnahmt. Viele überlebten die Transporte nicht, die Bedingungen waren menschenunwürdig.
Inmitten dieser historischen Umwälzungen steht die persönliche Geschichte von Gerold Schwarzer, der im Januar 1945 in Zuckmantel zur Welt kam – wenige Wochen vor Kriegsende. Seine Familie war tief in der Region verwurzelt. Die Großeltern mütterlicherseits, Marie und Moritz Kuhn, betrieben in Zuckmantel zunächst eine Genossenschaftsfiliale, später ein kleines Gasthaus. Großvater Moritz war ein leidenschaftlicher Musiker, spielte Geige und trat regelmäßig im Hotel der Stadt auf. Die Familie väterlicherseits stammte aus dem nahegelegenen Weißbach, einem bäuerlich geprägten Ort mit tiefreligiöser Prägung. Der Schwarzer-Hof, auf dem die Großeltern lebten, lässt sich über die Kirchenbücher bis ins Jahr 1696 zurückverfolgen. Die Familie führte ein einfaches, aber gefestigtes Leben – geprägt von harter Arbeit, christlichem Glauben und musikalischer Leidenschaft. Der Großvater war nicht nur Landwirt, sondern auch Jagdliebhaber und Kapellmeister der örtlichen Musikkapelle. Mit der Vertreibung im Jahr 1946 verloren beide Familien nicht nur ihre Häuser, Höfe und Lebensgrundlagen, sondern auch ihre jahrhundertealte Heimat. Was blieb, waren Erinnerungen – und der Wille zum Neuanfang. In Bayern, anfangs im Ort Griesstätt und bis heute in Rimsting am Chiemsee, gelang es der Familie, sich langsam wieder eine Existenz aufzubauen. Die ältere Generation bewahrte Traditionen und sprach weiter die alte Mundart, während die jüngeren sich in der neuen Umgebung integrierten.
Heute, da die Zahl der Zeitzeugen rapide abnimmt, wird die Weitergabe solcher Familiengeschichten umso bedeutsamer. Auch wenn Gerold Schwarzer selbst die Vertreibung nur als Kleinkind erlebte, trägt er den Wunsch in sich, das Erlebte seiner Familie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Seine Erzählung ist ein persönliches Zeugnis – und ein Aufruf, den Wert von Heimat, Erinnerung und Versöhnung nicht aus den Augen zu verlieren.
Einen guten Teil zur glückenden Erinnerung kann sein 172 Seiten starkes Buch „Eine sudetendeutsche Familiengeschichte – aus dem Altvatergebirge nach Bayern an den Chiemsee“ beitragen. Gerold Schwarzer, der lange Jahre am Priener Ludwig-Thoma-Gymnasium in den Fächern Biologie und Chemie gelehrt hat und dort auch von 2000 bis 2009 Ständiger Vertreter des Schulleiters war, hat sich das Buch selbst zum 80. Geburtstag als Geschenk gemacht. Das Buch stellt er auch Interessierten zur Verfügung und aus dem Buch wollen wir in weiteren Beiträgen berichten, zumal es dem Autoren und seiner Familie gelungen ist, zahlreiche Dokumente seiner alten Heimat mit an den Chiemsee zu bringen. In der nächsten Folge wollen wir in Erinnerung bringen, welche Umstände herrschten, als die „Vertreibung“ ihren Anfang nahm.
Erhältlich ist das im Selbstverlag erschienene Buch bei Gerold Schwarzer in der Lärchenstraße 14 in Rimsting (gschwarzer@gmx.de). Der gesamte Inhalt des Buches ist auch im pdf-Format erhältlich.
Fotos/Repros: 1. Erinnerungen an Hochzeiten der Vorfahren von Gerold Schwarzer – 2, Karte mit Hinweis auf die Heimatorte – 3. Postkarten historisch von Zuckmantel – 4. Buch-Titel.



















