Leitartikel

Vertriebenen-Geschichte Altvatergebirge-Chiemsee – III

Veröffentlicht von Toni Hötzelsperger

Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor gut 80 Jahren wurden in der wieder gegründeten Tschechoslowakei Bestrebungen laut, alle Deutschen aus dem Land zu vertreiben. Dazu gehörten auch der nun gut 80jährige ehemalige Lehrer des Priener Ludwig-Thoma-Gymnasiums Gerold Schwarzer aus Rimsting mit seiner Familie. Nach den ersten Beiträgen zu Vertreibung und Flucht nunmehr das Finden einer Neuen Heimat und der Aufbau einer Neuen Existenz. Gerold Schwarzer hat dies in einem eigenen Buch festgehalten und wird zu seiner Familiengeschichte am Samstag, 25. Oktober einen Vortrag im Pfarrheim Prien halten.

III. Die Nachkriegszeit – Neubeginn  –  In der neuen Heimat muss eine neue Existenz aufgebaut werden – Zusammenfassung von Gerald Schwarzer aus seinem Buch.

 Die Kuhn-Großeltern bei Griesstätt

Zusammen mit ihrem Sohn Leo (meinem Onkel) werden die Kuhn-Großeltern Ende November 1945 in ein Zimmer (ohne WC, ohne Wasseranschluss, etc.) in einem Bauernhof in einem Weiler bei Griesstätt eingewiesen.  Ein unvorstellbar harter Start in eine neue Existenz für die Kuhn-Großeltern und die übrigen Millionen Flüchtlinge und  Heimatvertriebenen: Fern der angestammten Heimat, entwurzelt, nur mit dem Nötigsten zum Leben, Lebensmittelmarken, Währungsreform – alle müssen sich einschränken. Mit offenen Armen werden die Sudetendeutschen, Schlesier usw. wohl nirgends begrüßt. Das Misstrauen gegen die Neuankömmlinge ist groß und verständlich.

Trotzdem erscheint in dem kleinen oberbayerischen Dorf die Situation nicht ganz hoffnungslos. Der Bauer, bei dem die Großeltern untergebracht sind, zeigt sich durchaus großzügig. Oma und Opa dürfen ein eigenes Stück Garten für sich selbst bewirtschaften, in einer Scheune werden Kaninchen gezüchtet. Der gesundheitlich bereits angeschlagene Opa macht sich auf dem Hof nützlich soweit es geht, die Kuhn-Oma ist regelmäßige und gern gesehene Hilfe in Küche und Haushalt des großen Anwesens. Die Bezahlung für die Arbeiten am Hof erfolgt in Naturalien und hilft die kümmerlichen Rationen aufzubessern. Am Rande eines Feldes bekommt man ein paar Furchen zugestanden zum Anbau eigener Kartoffeln, zur Feldarbeit darf zeitweise ein Pferd ausgeliehen werden. Außerdem liefert der Wald Beeren, Pilze und das nötige Brennholz. Sogar Torf als Brennmaterial stellt der Bauer zur Verfügung, das Torfstechen muss die Familie selbst erledigen.

Mein Onkel sucht in den Nachkriegswirren mit aller Macht nach Arbeit. Dabei landet er sogar für längere Zeit in Essen im Ruhrgebiet und arbeitet dort in einem Steinkohlebergwerk unter Tage. Bei besonders schmalen Flözen wird damals von den Kumpeln die Kohle teilweise im Liegen herausgebrochen, so weiß er später zu berichten und verweist auf die zahlreichen kleinen Kohle-Einschlüsse in seiner Haut. In Griesstätt engagiert sich der Kuhn-Opa für die Sudetendeutsche Landsmannschaft, trifft sich mit „Leidensgenossen“ und hilft vielen Flüchtlingen bei Behördengängen, beim Bearbeiten von Formularen und Anträgen. Und er musiziert wieder bei Veranstaltungen im Dorf.

Kuhn-Opa erliegt 1953 einem Herzschlag, genau an dem Tag der Aufstände in der damaligen DDR.  Er wird gerade mal sechzig Jahre alt. Erst 1955 zieht dann die Kuhn-Oma um nach Rosenheim in eine kleine Wohnung. Tapfer schlägt sie sich mit einer ganz geringen Rente durchs Leben. Aber vom Glück verfolgt ist sie auch jetzt nicht. Ihr Hausarzt erkennt viel zu spät eine Thrombose, 1969 wird ihr linkes Bein amputiert. Bewundernswert kommt sie mit Prothese und Krücken weiterhin allein zurecht. Nie hört man sie jammern. Sie erreicht den von ihr ersehnten achtzigsten Geburtstag nicht mehr und stirbt am 9.4.1981.

  1. Heimatvertreibung der Schwarzer-Familie, Tod der Schwarzer-Oma

Auch die Bewohner von Weißbach am Altvatergebirge müssen im Oktober 1946 ihr Dorf und ihre Heimat für immer verlassen und werden per Eisenbahn-Transport in Viehwaggons quer durch die damalige Tschechoslowakei über die Grenze nach Deutschland befördert. Die Schwarzer-Oma muss wegen ihrer Gehbehinderung – Folge eines früheren Sturzes am Weißbacher Bauernhof –  liegend am Boden des Viehwaggons transportiert werden. In dem ratternden, ungefederten Viehwaggon liegt sie sich wund. Sie stirbt nur vierzehn Tage nach der Ankunft in Deutschland infolge der schweren Rückenwunden. Medizinische Versorgung, Medikamente oder gar Antibiotika: Fehlanzeige!

  1. Die Nachkriegszeit für die große Schwarzer-Familie

Einer der Schwarzer-Söhne landet im thüringischen Greiz und damit in der späteren DDR. Die meisten Schwarzer-Söhne und -Töchter mit ihren Familien kommen ins Württembergische. Mit enormem Fleiß, extremer Sparsamkeit und Ausdauer bauen sich die Familien in der neuen Heimat eine neue Existenz auf. Zuerst in Schulen, dann in von den Behörden frei gemachten Zimmern in den jeweiligen Orten untergebracht,  zielt man möglichst schnell darauf, wieder ein eigenes Dach über den Kopf zu bekommen. Alle helfen zusammen, man spart sich das nötige Geld sprichwörtlich „vom Mund ab“ und legt „Pfennig auf Pfennig“. Auch die staatliche Förderung des Lastenausgleichs hilft den Heimatvertriebenen, die wirklich alles in ihrer angestammten Heimat zurücklassen mussten. Es dauert etwa zehn Jahre, dann stehen die ersten Einfamilienhäuser der heimatvertriebenen Mitglieder der Schwarzer Familie. Und oft gehört bei den ehemaligen sudetendeutschen Landwirten ein kleiner gemauerter Schuppen mit zum Häuschen: Man füttert ein Schwein, hält Ziegen, Hühner. Der große Garten liefert Obst und Gemüse. Endlich wieder eine Landwirtschaft – auch wenn`s  nur Miniatur-Bauernhöfe sind!  Der Schwarzer-Opa stirbt 1954:  Auf seinem damaligen Personalausweis ist zu lesen „Deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt“. Ganz ist damals der Flüchtlings-Status der heimatvertriebenen Sudetendeutschen noch nicht abgelegt.

  1. Meine eigene Familie

Meine Eltern Karl und Elisabeth Schwarzer und ich, wir finden nach den Wirren von Krieg und Heimatvertreibung in Hamburg wieder zusammen. Allerdings ist in der zum Großteil zerbombten Stadt die Versorgungslage 1946 äußerst angespannt. Es blüht der Schwarzhandel. Ein Allee-Baum nach dem anderen wird zur Brennholz-Beschaffung nächtens gefällt. Von den offenen Kohlewaggons der im Stadtgebiet langsam fahrenden Güterzüge klauen die jungen Burschen in der Dunkelheit Kohle und riskieren  dabei Kopf und Kragen. Zu Essen gibt es nur Schmalkost. Meine Eltern entschließen sich, Hamburg zu verlassen. Irgendwie schaffen sie es, die Genehmigung zur Umsiedlung nach Bayern (damals amerikanische Besatzungszone) und nach Griesstätt zu erhalten. Die Gemeindebehörden weisen uns ein kleines Zimmer bei einem Bauern in der Nähe von Griesstätt und in der Nähe der Kuhn-Großeltern zu.  Die ersten Jahre in Bayern gestalten sich unermesslich hart!

Wohnung:  Das Anwesen ist nicht besonders groß. So muss sich die Bauersfamilie räumlich einschränken. Verständlicherweise ist das für ein harmonisches Zusammenleben nicht gerade förderlich.

Ernährung: Noch gibt es für lange Zeit Lebensmittelmarken  (bis März 1950, in der DDR sogar bis Mai 1958). Die Rationen sind knapp bemessen und das „Schlange stehen“ vor den Geschäften gehört zur Tagesordnung. Besonders Fleisch ist Mangelware. Elli fährt daher oft mit dem ersten Bus noch vor Tagesanbruch nach Rosenheim: Beim dortigen Pferdemetzger gibt es auf Fleischmarken das doppelte Quantum wie sonst bei einem Metzger. Entsprechend lang sind die Menschenschlangen vor dem Laden. Außerdem werden, wo immer es geht, Kaninchen in großer Anzahl gezüchtet und geschlachtet.

„Stöcke-Roden“ im Winter: Manche Bauern überlassen hin und wieder den Flüchtlingen Baumstümpfe von gefällten Bäumen als Brennholz. Kaum vorstellbar, welche körperlichen Anstrengungen es bedarf, um aus verschneitem, gefrorenem Boden Baumstümpfe frei zu schaufeln, mit einfachem Gerät und bloßer Muskelkraft heraus zu hieven und das Holz zu zerkleinern.

Lebensunterhalt, Arbeit: Mit Hilfsarbeiten bei den Bauern hält man sich über Wasser. Karl ist handwerklich begabt – und lernfähig. In einem kleinen Baugeschäft findet er zeitweise Arbeit.  Schließlich kommt er in Rosenheim als Maurer unter und nimmt den täglichen, weiten Weg hin und zurück (mit Fahrrad und Bus) in Kauf. Dass er keine Zeugnisse vorweisen kann, lässt sich damals glaubhaft erklären: „Alle Unterlagen bei Krieg und Aussiedlung verloren“. Seine Fähigkeiten beim Lesen und Entwerfen von Bauplänen (seiner früheren Berufsausbildung im Sudetenland sei Dank) fallen schnell auf. So dauert es nicht lange, und er ist Bauführer („Maurerpolier“) und leitet große Baustellen. Eine davon ist der Erweiterungsbau des Zementwerks in Rohrdorf. Langsam wird jetzt, fünf Jahre nach der Heimatvertreibung, der Süden Bayerns, der Landkreis Rosenheim für uns zur neuen und zweiten Heimat. Allerdings scheinen die seelischen Wunden des Krieges, der Aussiedlung und des Verlustes der Heimat besonders bei meiner Mutter zeitlebens nie so recht zu verheilen. Und in ihren Träumen ist sie – besonders am Ende ihres Lebens – ganz oft „daheim“ in Zuckmantel und bei ihren Jugenderinnerungen.

Meine eigene Biografie:

Nach Schule, Studium in München und Referendariat bekomme ich 1972 eine Stelle als Biologie und Chemie-Lehrer am Ludwig-Thoma-Gymnasium. Dort war ich tätig bis zu meiner Pensionierung 2009. Wir (meine Frau und die beiden Söhne) haben 1981 ein neu gebautes Haus in Rimsting bezogen. Ehrenamtliche Tätigkeiten in Gemeinde und Pfarrei setze ich noch weiterhin nach der Pensionierung fort.  Wie der ehemalige, sudetendeutsche Politiker Peter Glotz (1939-2005) kann ich für mich und meine Eltern über die Zeit nach der Heimatvertreibung sagen: „… ganz gut gelebt“, zwar mit vielerlei Einschränkungen, aber: trotzdem!  Zumindest haben es viele Flüchtlinge, in Wirklichkeit ja meist Heimatvertriebene, besser gehabt als diejenigen, die nach 1946 in der Tschechoslowakei zurückblieben oder zurückbleiben mussten.

Fotos: Hötzelsperger – 1. Gerold Schwarzer mit seinem Buch in einem Herrgottswinkl mit einem Chiemsee-Gemälde des Priener Malers Bartholomäus Wappmannsberger.

 Titel des Buches „Eine Sudetendeutsche Familiengeschichte – aus dem Altvatergebirge nach Bayern an den Chiemsee“

 Repro: Rohbau des Hauses der Familie Schwarzer (zum Großteil Eigenleistung!) in der Sudetendeutschen-Siedlung in Haidholzen 1959

Repro: – Barackensiedlung in Haidholzen nach dem Krieg (ehemals Baracken der Flack-Kaserne)

Repro: –  Neue Heimat: Straße in der Neubausiedlung Erlenau in Rosenheim in den 50-er Jahren.

Repro: Lebensmittelmarken

Zum Buch:  Erhältlich ist das im Selbstverlag erschiene Buch „Aus dem Altvatergebirge nach Bayern an den Chiemsee“ bei Gerold Schwarzer in der Lärchenstraße 14 in Rimsting (gschwarzer@gmx.de). Der gesamte Inhalt des Buches ist auch im PDF-Format erhältlich.

Zum  Vortrag: Vom Sudetenland (Altvater) nach Bayern: eine Vertriebenen-Familiengeschichte  / Referent: Gerold Schwarzer (viele Jahre Lehrer am Ludwig-Thoma-Gymnasium)

Samstag, 25. Oktober

Beginn:    15 Uhr

Pfarrheim Mariä Himmelfahrt, Alte Rathausstraße 1 a, Prien a. Ch.

Veranstalter: Sudetendeutsche Landsmannschaft Prien u. Umgebung

 Die Veranstaltung ist kostenlos.

 

 

 

 


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Toni Hötzelsperger

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