Gesundheit & Corona

Mythos oder Geschichte: Tanz aus der Krise

Veröffentlicht von Anton Hötzelsperger

Kunst, Musik und Rituale helfen seit jeher, die in Krisenzeiten entstandenen Traumata zu überwinden. Davon zeugen Pestsäulen und -kapellen oder die Oberammergauer Passionsspiele, die seit dem Pestjahr 1633 regelmäßig aufgeführt werden. Auch der heute in ganz Oberbayern verbreitete Zunfttanz der Fassmacher, der Schäfflertanz, gilt als Reaktion auf eine überstandene Katastrophe. Über die berühmte Tradition und was Bezirksheimatpfleger Dr. Norbert Göttler und Volksmusikpfleger Ernst Schusser dazu sagen.

Der Tanz soll auf das Jahr 1517 zurückgehen, als sich die Münchner Bürgerinnen und Bürger nach überstandener schwerer Pestepidemie nicht wieder in die Öffentlichkeit zurücktrauten. Mutige junge Schäfflergesellen lockten die verängstigten Menschen mit Tanz und Musik wieder ins Freie – und damit „ins Leben“ zurück. So sagt es die Legende. Die dazugehörige Tradition hat sich erhalten. Bis heute wird der Schäfflertanz alle sieben Jahre aufgeführt, in München konnte er zuletzt im vergangenen Jahr bewundert werden – beispielsweise auf dem Marienplatz: Gut 20 Männer bewegten sich hier nach fest vorgegebener Choreografie zur Blasmusik. Ein Blickfang ist bei solchen Aufführungen die maßgeschneiderte Tracht. Weiße Kniestrümpfe, schwarze Kniebundhose, rote Jacke, Lederschurz und Kappe gehören ebenso dazu wie das diagonal über die Brust gespannte schwarze „Pestband“, das an die schlimme Zeit erinnern soll.

Die Tänzer drehen sich im Kreis, heben gleichzeitig die Knie, bewegen sich aufeinander zu und voneinander weg. Dabei tragen sie bogenförmige Buchskränze, die an das Handwerk der Fassmacher erinnern. Begleitet werden sie von den Fassschlägern, die mit Hämmern im Takt auf den eisernen Fassring schlagen. Besondere Geschicklichkeit wird dem Reifenschwinger abverlangt, der einen Holzreifen kunstvoll durch die Luft wirbelt und dabei aufpassen muss, keinen Schnaps zu verschütten. Dieser befindet sich in einem Stamperl, das wiederum an der dicksten Stelle des Reifens in einer Vertiefung steckt. Zum Ritual gehört, dass der Reifenschwinger vor seiner Performance die Prominenz „derbleckt“, bevor er das Glas austrinkt und hinter sich wirft. Dort wird es von einem der beiden fest zur Schäfflergruppe gehörenden Kasperl mit der Mütze aufgefangen.

Eine Pestepidemie gab es 1517 wohl nicht

Die Figuren und Tanzschritte werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Aus Mangel an jungen, unverheirateten Schäfflergesellen – ursprünglich durften nur sie den Brauch ausüben – machen heute auch ältere und berufsfremde Tänzer mit. Nach wie vor ist die Angelegenheit aber reine Männersache. So altehrwürdig und fest tradiert der Schäfflertanz auch scheinen mag: Fachleute bezweifeln nicht nur sein Alter, sondern auch seine Entstehungsgeschichte. „Glaubhafte Belege, dass es 1517 in München überhaupt eine Pestepidemie gab, haben wir nicht“, sagt Bezirksheimatpfleger Dr. Norbert Göttler. „Die Sterberegister des Jahres verzeichnen keine Auffälligkeiten.“ 1702 werde der Schäfflertanz zum ersten Mal in den Archiven der Stadt München erwähnt. Seit 1760 werde er alle sieben Jahre zur Faschingszeit aufgeführt, das sei belegt. „Über 250 Jahre Tradition – ist auch schon was! Und die mythologische Überhöhung von Ereignissen, deren Ursprung man nicht kennt, kommt öfter vor“, weiß Göttler. Er vermutet, dass die Pest-Legende erst im 19. Jahrhundert entstanden ist.

Die Frage, warum der Tanz alle sieben Jahre stattfindet, konnte bisher nicht eindeutig beantwortet werden. Manche glauben, weil die Pest im Mittelalter alle sieben Jahre verstärkt auftrat oder weil die Sieben als Glückszahl gilt. Einer anderen Überlieferung nach habe Herzog Wilhelm IV. von Bayern versucht, die Feste der Zünfte zu reglementieren und den Schäfflern den Tanz nur alle sieben Jahre erlaubt. Wenn es so war, hätte es ihm sicherlich nicht gefallen, dass im 19. Jahrhundert wandernde Schäfflergesellen den Brauch erfolgreich in ganz Oberbayern verbreiteten. Oft nahmen sich lokale Turnvereine der Pflege des – damals noch lizensierten – Zunfttanzes an. Bis heute erfreut er sich großer Beliebtheit und wird landauf landab gepflegt. „26 Schäfflergruppen gibt es in Oberbayern, 18 davon sind im vergangenen Jahr aufgetreten“, berichtet Eva Pöhlmann vom Volksmusikarchiv in Bruckmühl. Die Einrichtung des Bezirks Oberbayern hat Noten und Texte zum Schäfflertanz in ihrem Bestand.

Musik aus dem 19. Jahrhundert

Seit Beginn der 1990er Jahre zeichnet das Volksmusikarchiv die Tänze der verschiedenen Gruppen auch auf Video auf. „Obwohl sie alle auf das Münchner Original zurückgehen, gibt es doch regionale Unterschiede“, erklärt der Leiter des Archivs, Ernst Schusser. Manche tanzten in anderen Zeitabständen oder außerhalb der Faschingszeit. Der vielleicht bekannteste Text zum Schäfflertanz handelt vom Wetter in der Aufführungszeit: „Aber heut is kalt, aber heut ist kalt, aber heut is sappramentisch kalt!“ Was die Musik angehe, so habe sie sich dem Zeitgeist und mehr noch den in der jeweiligen Zeit verbreiteten Instrumenten angepasst. Was wir heute hören, sei in der Regel die 1886 vom Königlichen Musikmeister Johann Wilhelm Siebenkäs komponierte Melodie. Danach habe es keine großen Veränderungen mehr gegeben.

Dafür aber große Berühmtheit. Wer könnte sagen, wie viele Touristen aus aller Welt bislang die Miniaturversion des Tanzes im Glockenspiel am Münchner Rathaus bewundert haben? Drei Mal täglich ist das farbenfrohe Spiel dort zu sehen – auch in der Coronakrise, nur mit weniger Publikum. Nicht weit entfernt – allerdings erst auf den zweiten Blick – sind weitere Schäfflerfiguren zu erkennen: als Relief an der Südwestecke des Rathauses und als Hauszeichen am sogenannten Schäfflereck. Bleibt die Frage, in welcher künstlerischen Form sich die Menschen einmal an die überstandene Corona-Pandemie erinnern werden. Und wichtiger noch: Wie es sein wird, wenn alles vorüber ist? Werden sich die Menschen einfach trauen, wieder „unter Leute“ zu gehen? Vermutlich gibt es kein nahtloses Weitermachen wie vorher. Und vielleicht helfen dann Rituale, Kunst und Musik. (ks)

Bericht: Bezirk Oberbayern – Schäfflertanz 2019 in Geisenfeld, Foto: VMA/Bezirk Oberbayern

Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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