Christopher Weinberger hat Epilepsie und Lerndefizite. Gefördert vom Bezirk Oberbayern gelingt dem 25-jährigen Rosenheimer der Sprung in eine reguläre Ausbildung – und ein freies Leben
Die sechs Meter hohe Industriehalle in Bad Aibling ist hell erleuchtet an diesem Donnerstagmittag. Die wenigen Sonnenstrahlen, die es hineinschaffen, mischen sich mit dem grellweißen Licht aus unzähligen LED-Röhren. Der Geruch von Karton und Kunststoff liegt in der trockenen Luft. Aus der Ferne hallt metallisches Hämmern, an der Decke surrt es aus dicken grauen Lüftungsrohren. Und überall piepen Gabelstapler – erst zweimal kurz, dann leise ausrollend.
Christopher Weinberger steht an der Laderampe. Schwarze Funktionshose, dunkles T-Shirt mit dem Logo seines Arbeitgebers Aenova Group, dunkle Sicherheitsschuhe mit neongrünen Schnürsenkeln. In der Hand hält er ein Klemmbrett. „Das hier ist ein erwarteter Wareneingang. Der wird nachher direkt bemustert.“ Er schaut, schreibt, setzt sich in den Gabelstapler und dreht die Palette leicht an: „Nach dem Wareneingangsprozess wird da hinten dann eingelagert. Man muss immer wissen, was wo liegt.“ In der 5.000 Quadratmeter großen Halle gibt es 2.700 Plätze nach einem „dynamischen System“, wie es der Rosenheimer nennt. Sein Tag beginnt meist schon früh – um halb acht ist Arbeitsbeginn. „Am Anfang war das hart, aber du gewöhnst dich dran“, sagt er. Weinberger wirkt wach, geerdet. Der 25-Jährige spricht ruhig, aber deutlich – und immer, wenn er etwas erklärt, gestikuliert er, zeigt auf Paletten, dreht sich, geht zwei Schritte zurück. Alles ist anschaulich bei ihm. Was man aber weder sieht noch hört: Dass er als Kind Epilepsie hatte, weswegen er Lernschwierigkeiten und letztlich keinen Schulabschluss hat. Dass er Depressionen kennt. Dass ihm Mathe schwerfällt.
Integrationsbegleiterin erkennt sein Potenzial
„Ich bin ein gesunder junger Mann mit Lerndefiziten“, sagt der sportlich gebaute, blond gelockte und 1,86 Meter große Weinberger. Ein Satz wie ein Fundament. Und untypisch – zumindest für das, was man gemeinhin über Menschen denkt, die aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen kommen. Vier Jahre lang ist er genau dort: in einem ausgelagerten Arbeitsplatz einer Werkstatt. Eigentlich eine gut gemeinte Entscheidung zur Absicherung, doch für ihn persönlich letztlich ein Fehler. Dort macht er zwar den Staplerführerschein, ist zuverlässig und engagiert. Und trotzdem in einer Sackgasse. Sein Wunsch nach einer fachlichen Ausbildung bleibt eine ganze Weile unerfüllt.
Erst der Austausch mit Michaela Paul, seiner Integrationsbegleiterin, bringt plötzlich Bewegung in sein Leben. Sie war in der Werkstatt für ihn zuständig, heute begleitet sie ihn bei seiner Ausbildung zum Fachlageristen. Michaela Paul ist Sozialarbeiterin, Arbeitspädagogin, Jobcoach mit psychosozialem Schwerpunkt – und für Weinberger eine Art Persönlichkeitstrainerin. „Er hat viel Potenzial, hatte aber auch Versagensangst“, erinnert sie sich. Sie kennt ihn bestens – und traut ihm daher etwas zu. Es ist auch ihre Idee, einen Ausbildungsplatz bei Aenova in Bad Aibling zu organisieren – wo sie selber früher gearbeitet hat.
Doch Michaela Paul weiß, dass es mehr braucht als gute Ideen und Vorsätze. Also begleitet sie ihn bei der Kommunikation mit dem Ausbildungsbetrieb, beim Antrag auf Förderung, bei einem Schnupperpraktikum, im Übergang zur Ausbildung – und läuft dabei zeitweise Gefahr, ihre eigenen Kapazitäten zu überschreiten. „Es war ein hartes Stück Arbeit, ihm das zu ermöglichen. Ich würde mir da mehr Durchlässigkeit wünschen von der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt“, sagt sie: „Denn jeder Ausbildungsplatz, der mit Azubis mit Behinderung besetzt wird, schafft Multiplikatoren, die in die Gesellschaft wirken und Barrieren abbauen.“
Förderung „Budget für Ausbildung“ ist Neuland
Eines Tages rät sie Weinberger zum „Budget für Ausbildung“. Eine Förderung nach § 61a des Sozialgesetzbuch IX, geschaffen für Menschen mit Behinderungen, die ansonsten im Arbeitsbereich einer Werkstatt tätig wären – aber mehr wollen. Es ermöglicht eine reguläre Ausbildung mit tariflichem Vertrag, vollständiger sozialer Absicherung und begleitender Unterstützung. In Weinbergers Fall, der in Oberbayern lebt, übernimmt der Bezirk Oberbayern das „Rundum-Sorglos-Paket“, wie es Michaela Paul mit einem Augenzwinkern nennt: die Vergütung, die Sozialabgaben, die Wohnung, die Fahrkarte – und die Begleitung durch die Integrationsberaterin. „Seit der Beantragung haben wir durchgängig feste Ansprechpersonen. Die Zusammenarbeit mit dem Bezirk Oberbayern erlebe ich als konstruktiv, unterstützend und zugewandt“, sagt Paul.
Dabei betritt auch der Bezirk Oberbayern hier als Leistungsträger viel Neuland. Yvonne Gerngroß aus der Sozialverwaltung des Bezirks, die „den Fall“ Weinberger betreut, kann davon ein Lied singen: „Das Budget für Ausbildung gibt es erst seit 2020, vorab mussten bei uns Zuständigkeiten festgelegt, Antragswege und Bewilligungsverfahren definiert sowie Haushaltsmittel eingestellt werden.“ 2023 sind laut Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) bundesweit erst 29 Personen gemeldet, die die neue Leistung in Anspruch nehmen – es gibt also auch kaum Erfahrungswerte für den Austausch.
Weinberger ist einer der ersten in Oberbayern. „Ich halte mich, jetzt wo Christopher seine Ausbildung hat, aber bewusst zurück“, fährt Michaela Paul fort: „Die Autonomie im Arbeitsalltag steht im Vordergrund“. Und dieser Alltag ist durchgetaktet: Der Block-Schulunterricht in Traunreut, wo er hervorragende Noten schreibt, wechselt sich ab mit regelmäßiger Abteilungsabfolge in der Firma zwischen Wareneingang und Versand. Monatlich neue Aufgaben und neue Verantwortung. „Am Anfang war ich alle zwei Minuten bei Herrn Troffer im Büro, um irgendwas zu fragen“, sagt Christopher Weinberger und grinst hinüber nach links. Dort steht sein Ausbilder Peter Troffer, der diesen Satz mit einem Lachen bestätigt: „In den ersten Wochen war er Dauergast bei mir. Aber Christopher hat sich reingebissen.“
Partnerschaft mit inklusiven Einrichtungen lohnt sich
Troffer ist Industriemeister mit Fachrichtung Lagerwirtschaft und Logistik, seit 31 Jahren im Unternehmen. Seit 15 Jahren bildet er auch sogenannte kooperative Azubis aus, die zum Beispiel über Maßnahmen der Beruflichen Fortbildungszentren zum Unternehmen stoßen. Menschen also, die ihren Platz suchen – und manchmal finden. Bei Aenova in Bad Aibling gibt es schon länger erfolgreiche Partnerschaften mit inklusiven Einrichtungen. „Klar bedeutet das mehr Zeitaufwand. Aber jeder, den man durch die Ausbildung bringt, ist eine Bestätigung, alles richtig gemacht zu haben“, sagt Troffer sichtlich stolz: „Und bei Christopher hat´s nunmal Klick gemacht.“
Weinberger geht vorbei an den weißen „Big Bags“, jede über eine Tonne schwer, rundherum türmen sich die massiven, rotlackierten Regalkonstruktionen. Bei Aenova am Standort Bad Aibling dreht sich alles um Nahrungsergänzungsmittel wie z.B. Vitaminpräparate und Arzneimittel – hier vor allem Brauseprodukte und die Verpackung von Tabletten, die in Schwesterwerken produziert werden. Dementsprechend vorsichtig müssen die Mitarbeitenden mit der Ware umgehen. Bis zu 100 Paletten kommen im Schnitt hier täglich im Wareneingang an, etwa 170 verlassen das Haus nach der Verarbeitung wieder. Hier ist alles in Bewegung, gut organisiert. Über den Weggabelungen hängen große abgerundete Spiegel von der Decke, die der Übersicht für die Staplerfahrerinnen und -fahrer dienen und ein bisschen wie schwebende Discokugeln aussehen.
Heute zeigt Weinberger neuen Azubis, wie das mit dem Scannen geht. Wie man Transportaufträge abgleicht und kommissioniert. Woran man erkennt, ob eine Palette ordentlich gewickelt ist. Er weiß heute genau, was er kann – und dass das beileibe nicht selbstverständlich ist. Die Selbstständigkeit, die er im Rahmen der Ausbildung erreicht hat, umfasst nicht nur die Abläufe im Betrieb, sondern auch den Umgang mit Behörden, das Lernen, das Organisieren.
Erfolgsgeschichte geht weiter
Er wirkt nicht wie jemand, der “besondere Förderung” braucht. Bei Weinberger wird sichtbar, was passieren kann, wenn ein System nicht bremst, sondern begleitet. „Ich lege allen jungen Menschen, die noch nicht wissen, welchen Weg sie einschlagen möchten, ans Herz, es einfach auszuprobieren. Trotz möglicher Bedenken aus dem Umfeld“, sagt er sichtlich selbstbewusst. Zurecht: In seiner Freizeit trainiert er im Fitnessstudio, beherrscht Karate und Jiu-Jitsu, engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr – und hat soeben den Motorradführerschein bestanden. Weinberger hat eine Freundin, eine Wohnung in Rosenheim, ein schönes Leben.
Und kommt daher auch gerne in die Arbeit, sehr zur Freude seines Ausbilders: „Da sieht man es: Das Thema Inklusion im Arbeitsleben müsste noch mit mehr Werbung in viele Unternehmen getragen werden“, sagt Troffer. Im Juli wird Weinberger seine Ausbildung zum Fachlageristen abschließen. Im September möchte er noch einen draufsetzen – mit einer Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik. Wieder bei Aenova in Bad Aibling, wieder mithilfe der Unterstützung des Bezirks Oberbayern. Weinberger hat Lust auf mehr: „Das Budget für Ausbildung hat mir die Grundlage für all meine Träume geschaffen. Ich kann jetzt mein Leben leben – und es gibt in gewisser Weise keine Grenzen mehr.“
Bericht und Bilder: Bezirk Oberbayern / Gunnar Giftthaler – 1: Starkes Team (von links): Integrationsbegleiterin Michaela Paul, Christopher Weinberger und Ausbildungsleiter Peter Troffer von Aenova in Bad Aibling.
Bilder 2, 3, 5, 8: Christopher Weinberger macht eine Ausbildung zum Fachlageristen. Im September möchte er noch einen draufsetzen.
Der Bezirk Oberbayern erfüllt Aufgaben in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Bildung, Kultur, Heimat und Umwelt, die über das Leistungsvermögen der Landkreise und kreisfreien Städte hinausgehen. Sein Schwerpunkt liegt im Sozialen: Gemäß seinem Anspruch „Wir stärken Menschen“ finanziert er Hilfen für Menschen mit Behinderungen und mit Pflegebedarf, betreibt berufliche Bildungszentren und Förderschulen sowie über sein Kommunalunternehmen kbo psychiatrische und neurologische Kliniken in ganz Oberbayern. Darüber hinaus fördert er die regionale Kultur, unterhält Museen wie das Freilichtmuseum Glentleiten und engagiert sich für Denkmalschutz, Bienen- und Fischzucht sowie Naturschutz. Der Bezirk Oberbayern verfügt jährlich über einen Etat von fast drei Milliarden Euro und wird vom demokratisch gewählten Bezirkstag verwaltet.