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Bezirk Oberbayern: „Es braucht Vorbilder, Netzwerk und Heimat“

Veröffentlicht von Anton Hötzelsperger

Seit dem Sommer leitet Jasmin Groh das Berufsbildungswerk München.  Sie  will Jugendliche mit Behinderung stark machen fürs LebenBezirk aktuell stellt die Germanistin und Pädagogin im Interview vor.

Warum haben Sie sich auf die Stelle beworben?

Jasmin Groh Da meine Eltern gehörlos sind, ist die Deutsche Gebärdensprache – die DGS – meine Muttersprache. Ich bin von klein auf mit dem Thema Hörschädigung aufgewachsen. Die Stelle am Berufsbildungswerk München hat mich gereizt, weil ich die Arbeit, die das Haus leistet, bereits von meiner vorherigen Tätigkeit kannte.

Sie sind „CODA“, das heißt, Ihre Eltern sind beide gehörlos. Wie sind Sie aufgewachsen?

Groh Ich habe schon früh wahrgenommen, dass Menschen seltsam auf meine Eltern reagierten. Meine Eltern haben viel Ungerechtigkeit und Diskriminierung erfahren. Sie nahmen das meist gelassen hin. Mich hat das oft wütend ­gemacht.

Was mich auch sehr geprägt hat, ist, dass meiner Mutter damals nur drei Berufe offen standen: Schneiderin, Bäckerin oder Sekretärin. Deswegen ist es mir so wichtig, die Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung auszubauen.

Wie hat die Behinderung Ihrer Eltern Sie geprägt?

Auch in meiner Tätigkeit als Lehrerin habe ich so viele Fälle gesehen, in denen Menschen mit Hörschädigung oder anderen Beeinträchtigungen massiv unterschätzt wurden. Mein Fokus liegt deshalb auf dem Empowerment von Menschen mit Behinderung. In vielen Fällen wird den hörgeschädigten Kindern zu viel abgenommen. Die jungen Menschen geraten so schnell in eine anerzogene Unselbstständigkeit, die sie ihr ­Leben lang begleitet. Technische Neuerungen, Apps oder andere Hilfsmittel werden nicht genutzt, weil der Umgang damit nicht geschult wurde. Auch der emphatische Umgang mit anderen Menschen bleibt bei einigen auf der Strecke. Ohne diese Fähigkeiten hat man es jedoch im späteren Leben sehr schwer. Das müssen wir ändern!

Fördereinrichtungen stehen immer wieder in der Kritik als „Sonderwelten“, die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen zu behindern.
Wie stehen Sie dazu?

Groh Ich sehe Inklusion zwiegespalten. ­Jeder Mensch sollte das gleiche Niveau an Bildung erhalten können, weshalb ich Inklusion begrüße. Jedoch habe ich viel mit erwachsenen Personen mit Hörschädigung zu tun gehabt, die mir ihre Sichtweise und Erlebnisse geschildert haben. Viele waren eben doch Außenseiter und hatten Probleme bei der Identitätsfindung. Ein tiefes Empfinden, welches ich bei meinen Eltern immer stark wahrgenommen und selbst geerbt habe, ist: „Egal, wie viel ich tue, egal, wie sehr ich mich bemühe und es mit ganzem Herzen will, es ist nie genug!“ Die Inklusion ist für viele Hörgeschädigte sehr hart. Das Verstehen der Unterrichtsinhalte ist mühevoll: Bei Störgeräuschen oder schlechten Lichtverhältnissen muss das Gehirn fehlende akustische Informationen kompensieren und den Zusammenhang herstellen. Viele haben nach der Schule keine Kraft mehr und machen im wahrsten Sinne des Wortes „ihre Ohren aus“.

So oder so: Für junge Menschen ist es so wichtig, andere um sich herum zu haben, die in der gleichen Situation sind. Sie haben ein Recht auf einen Unterricht, der die Hörschädigung berücksichtigt und bestenfalls mit DGS bilingual abläuft. Um das Bewusstsein zu haben, dass man alles schaffen kann, bedarf es positiver Vorbilder, des Zugangs zu einem guten Netzwerk und einer gefühlten Heimat, in der man sich sicher und am richtigen Ort fühlt. Das kann ein BBW bieten.

Welche Vorteile sehen Sie noch in der Ausbildung am BBW?

Groh Was Viele immer verwechseln: ­Berufsbildungswerke sind keine Werkstätten für Menschen mit Behinderung – wir bieten anerkannte Abschlüsse an, die unsere Auszubildenden dazu befähigen, im Arbeitsleben zu bestehen. Die vielen Praktika in Firmen zeigen, dass wir keine abgeschlossene Welt sind.

Die Behinderungsbilder unserer Schülerinnen und Schüler sowie Azubis werden immer diverser. BBWs können dabei als Brückenbauer dienen. Viele Unternehmen sind einfach noch nicht so weit, die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen komplett zu übernehmen. Viele junge Menschen drohen so, durch das Raster zu fallen. Hier können wir mit vielen kooperativen Ausbildungsmodellen unterstützen. Studien geben uns Recht: 70 Prozent der jungen Menschen, die in Berufsbildungswerken ausgebildet werden, werden nachhaltig am Arbeitsmarkt integriert. ­Damit erfüllen wir den Auftrag des Bezirks, allen Menschen mit einer Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen.

Wie kann das BBW im Jahr 2030 aussehen?

Groh Gemeinsam mit den Mitarbeitenden im BBW möchte ich daran arbeiten, für die Zielgruppen noch viele weitere Möglichkeiten und Chancen zu schaffen. Ein Fokus liegt klar auf der Digitalisierung. Dafür sind wir etwa beim Digitalisierungspakt dabei. Wir wollen die Automatisierung der Werkstätten vorantreiben und Online-Lern-Plattformen aufbauen, die als Wissensdatenbank dienen. Das ist ein wichtiger Beitrag zum lebenslangen Lernen. Denkbar wäre, Weiterbildung für Menschen mit Behinderung anzubieten, beispielsweise Computer- oder Deutschkurse für Erwachsene.
(Interview: DS)

Interview und Foto: Bezirk Oberbayern – Bei der Amtseinführung erhielt Jasmin Groh symbolisch den Schlüssel zum Berufsbildungswerk.

 

 

Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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